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Zurück ins Leben

Im Antonia-Werr-Zentrum leben Mädchen, die Gewalt erfahren haben – In der Einrichtung erfahren sie oft erstmals Zuwendung und können gleichzeitig die Schule besuchen oder eine Ausbildung machen

Würzburg/Sankt Ludwig (POW) Im Alter von eineinhalb Jahren wurde Jenny von ihren Eltern getrennt und kam ins Kinderheim. Zu groß waren die Probleme in der Familie. Mit fünf kam sie zu Pflegeeltern, auch dort gab es Schwierigkeiten. Inzwischen lebt die 16-Jährige im Antonia-Werr-Zentrum, einer heilpädagogischen Einrichtung für Mädchen und junge Frauen, in Sankt Ludwig im Landkreis Schweinfurt. Die Einrichtung wird von den Oberzeller Franziskanerinnen getragen. Wer Jenny sieht, ahnt nicht, dass sie eine schlimme Kindheit erlebt hat, mit wenig Liebe, dafür umso mehr Gewalt. Ruhig sitzt sie auf dem Bett ihres Zimmers. Sie trägt eine Zahnspange, hat etwas Wimperntusche aufgetragen, an der Wand hängt ein Poster des Popsängers und Mädchenschwarms Justin Bieber. Eben ein normales Mädchen im Teenager-Alter. Dass die jungen Frauen nach den Erfahrungen von Gewalt und sozialer Kälte in ihren Familien jetzt ein normales Leben führen können, ist Alfred Hußlein, stellvertretender Leiter des Antonia-Werr-Zentrums, und seinem Team ein großes Anliegen.

„Die Mädchen bei uns haben über Jahre in schwersten Verhältnissen gelebt. Gewalt und Missbrauch standen oft auf der Tagesordnung“, sagt Hußlein. Er ist seit 20 Jahren im Antonia-Werr-Zentrum beschäftigt. Wenn nichts mehr geht, meldet sich das Jugendamt bei ihm und fragt nach, ob Hußlein eine weitere junge Frau aufnehmen kann. Die Probleme gehen bei den meisten schon nach der Geburt los. Babys und Kleinkinder, die in den ersten zwei Lebensjahren wenig Liebe erfahren, entwickeln später Verhaltensauffälligkeiten. Sie klauen, sind aggressiv oder verstümmeln sich selbst, sagt Hußlein. „Frühkindliche Bindungsstörungen“ heißt das im Fachjargon.

Betritt man das Antonia-Werr-Zentrum, weist nichts auf eine Erziehungsstätte für Mädchen und junge Frauen hin. Neben den Mauern des Klosters befinden sich die Schul- und Wohnhäuser der Mädchen. Sechs bis acht Personen leben in einem Haus zusammen. Die Wohnhäuser erinnern nicht an ein Heim, sie sind von außen bunt gestrichen und ähneln Einfamilienhäusern. Drinnen verbreitet der Holzboden eine angenehme Wärme, Fenster und Glastüren lassen alles weit und groß wirken. Küche, Ess- und Wohnzimmer, Couchecke und Flachbildfernseher – hier könnte auch eine kleine Familie leben.

„Mir fehlt hier nichts, außer einem Haustier vielleicht“, sagt Jenny. Sie fühlt sich geborgen im Antonia-Werr-Zentrum. Zu ihren Pflegeeltern hat sie keinen Kontakt, auch nicht zu ihren leiblichen Eltern, auf deren Suche sie aber aktuell ist. Angie ist ebenfalls 16 Jahre alt und wohnt seit einem halben Jahr mit Jenny im selben Haus. Von ihrer Familie hat sie nur noch zu ihrem älteren Bruder und seiner Ehefrau Kontakt, sie besucht diese alle vier Wochen. „Klar fällt der Abschied nach einem Wochenende schwer“, sagt sie. Doch Heimweh ist meist schnell vergessen. In ihrer Freizeit können die Mädchen im Antonia-Werr-Zentrum zum Beispiel reiten oder Fußball spielen. Auch gemeinsame Fahrten stehen auf dem Programm.

Hußlein legt großen Wert auf ein Wohlfühlklima, schließlich haben die jungen Frauen das in ihren Familien nicht erlebt. „Wir fühlen uns verantwortlich für die Mädchen, denn Vertrauensbrüche haben unsere Bewohnerinnen schon viele erlebt“, erklärt Hußlein. Im Antonia-Werr-Zentrum können sie die Schule besuchen und einen Abschluss machen. Je nach Entwicklungsstand können die Mädchen aber auch außerhalb des Zentrums zur Schule gehen. Nach ihrem Abschluss besteht die Möglichkeit, im Zentrum eine Berufsausbildung zu absolvieren, zum Beispiel als Gärtnerin in der hauseigenen Gärtnerei. Die Tage sind streng strukturiert, denn das müssen viele auch erst lernen. Zu festen Zeiten bereiten die Mädchen in ihren Häusern das Essen zu, zu festen Zeiten wird geputzt. Auf die Einhaltung achtet jeweils eine Sozialpädagogin, die mit den jungen Frauen unter einem Dach lebt.

Eine enge Zusammenarbeit mit dem Jugendamt, den Mädchen selbst und – wenn möglich – deren Eltern ist Hußlein sehr wichtig. „Die jungen Frauen können bei uns so viel es geht mitentscheiden“, sagt er. Zum Beispiel, welches Essen es geben soll oder welche Freizeitangebote auf dem Programm stehen sollen. Nach Absprache dürfen die jungen Frauen das Gelände verlassen, um beispielsweise in der Stadt einkaufen zu gehen. Leicht ist das nicht immer. Die Gefahr, dass eine Bewohnerin wegläuft, besteht immer, nach Hußleins Angaben passiert das aber so gut wie nie. „Mitbestimmung kann immer zu Konflikten führen, aber die Mädchen spüren, dass wir ihnen Gutes wollen, und arbeiten gerne mit“, betont Hußlein.

Dass seine Arbeit Gutes bewirkt hat, konnte er erst neulich sehen: „Eine ehemalige Mitbewohnerin von hier hat mir erzählt, dass sie ihren Studienabschluss geschafft hat.“ Diese Begegnungen gäben ihm Kraft für seine tägliche Arbeit, die in den nächsten Jahren seiner Meinung nach zunehmen wird. „Die Zahl hoch belasteter Jugendlicher steigt schon seit Jahren an. Grund sind überforderte Eltern, oft alleinerziehend, und Armut“, sagt Hußlein. Er beobachte ein Auseinanderdriften der Gesellschaft. Auf der einen Seite reiche Familien, die immer wohlhabender werden, und auf der anderen Seite immer mehr Menschen aus der Mittelschicht, die in die Unterschicht abrutschen. An Kindern gehe das nicht spurlos vorbei.

(0811/0209; E-Mail voraus)

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