Würzburg (POW) Caritasarbeit steht heute im Spannungsfeld zwischen sozialstaatlichen Rahmenbedingungen und der Politik, der Wirtschaft sowie kirchlicher Institution mit ihrer theologischen Programmatik und eigenen arbeitsrechtlichen Anforderungen. Das hat der Freiburger Religionssoziologe Professor Dr. Dr. Michael Ebertz beim Neujahrsempfang des Diözesancaritasverbands am Freitag, 14. Januar, in Würzburg betont. Über 200 Gäste aus Kirche, Politik, Verbänden und der Wirtschaft nahmen an der Veranstaltung im Würzburger Caritashaus teil.
„Dass so viele die Einladung angenommen haben, erfüllt uns mit großer Freude. Wir erkennen darin ihre Wertschätzung für die Caritasarbeit in der Diözese Würzburg“, sagte Caritasvorsitzender Domkapitular Clemens Bieber. Im Namen seiner Stellvertreterin, Landtagspräsidentin Barbara Stamm, die kurzfristig absagen musste, und Caritasdirektor Martin Pfriem begrüßte er die Gäste und die haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter, „die das Netz der Caritas bilden, das unsere Kirche für die Menschen um uns herum ausbreitet.“ Kirche nehme ihre Verantwortung in und für die Gesellschaft wahr, betonte Bieber. Er zitierte den rheinland-pfälzischen Ministerpräsidenten Kurt Beck, der gesagt hatte: „Wer an dem bewährten Verhältnis von Staat und Kirche rühren will, indem er etwa öffentlich über eine Kürzung oder gar Streichung staatlicher Mittel zur Unterstützung kirchlicher Arbeit nachdenkt, der muss auch sagen, wie er die von den Kirchen für die Gesellschaft erbrachten Leistungen ersetzen will.“
In seinem Referat „Caritas oder Wohlfahrt im Sozialstaat“ setzte sich Ebertz mit den Herausforderungen heutiger Caritasarbeit auseinander. Die verbandliche Caritas sei so groß wie nie zuvor. Dieses Wachstum sei erfolgt trotz einer seit Jahrzehnten währenden Kirchenkrise und Entkonfessionalisierung der Gesellschaft. Mit über 500.000 hauptamtlichen Mitarbeitern allein in Deutschland sei die verbandliche Caritas inzwischen bundesweit und auch europaweit der größte nicht-staatliche Arbeitgeber geworden. Der Sozialleistungsumfang Deutschlands habe sich gleichzeitig zwischen 1970 und 2009 von 84,2 Milliarden auf 754 Milliarden Euro verneunfacht. Der zunehmende Kirchenschwund und die daher auch immer säkularer werdende Caritas verletze unter Umständen selbst ihren ursprünglichen Sinn. „Ist, wo ‚Caritas‘ drauf steht, nur noch ‚Wohlfahrt‘ drin?“, fragte Ebertz.
„Haben wir nicht zu oft nur deswegen etwas gebaut oder Stellen eingerichtet, weil es Zuschüsse dafür gibt?“, zitierte er den ehemaligen Limburger Bischof Franz Kamphaus. Nicht von ungefähr häuften sich seit vielen Jahren die Fragen nach den Besonderheiten und Eigentümlichkeiten von organisierter Caritas und Diakonie. Professionelles Wirtschaften freilich sei rationales Wirtschaften, und „rationale Wirtschaft“, das habe der Soziologe und Ökonom Max Weber festgestellt, sei „sachlicher Betrieb“. Daher stelle sich heute die Frage, ob der Wohlfahrtsverband Caritas nicht zu einer Wohlfahrtsproduktion werde und damit in Gefahr gerate, seinen ursprünglichen Auftrag zu verletzen oder gar zu gefährden.
Kirche und Caritas würden inzwischen sehr unterschiedlich wahrgenommen. „Während Kult und Konfession scheinbar an Bedeutung verlieren und religiöse Praxis immer mehr zur Privatsache wird, sind die karitativen Dienstleistungen der Kirchen weiterhin gefragt. Christen, denen Liturgie und sakramentale Praxis fremd geworden sind, erkennen an Diakonie und Caritas, dass die Kirchen noch zu etwas nützlich sind“, sagte Ebertz unter Hinweis auf den Münsteraner Pastoraltheologen Udo Schmälzle.
Die verbandliche Caritas werde nur nach außen für Caritas Zeugnis abgeben können, wenn sie diese auch nach innen lebe, mahnte Ebertz. Dazu gehörten zum Beispiel der Umgang mit Mitarbeitern und deren Motivation, die Einbindung der Religiosität und die Zusammenarbeit mit der Institution Kirche und den Pfarrgemeinden. Eine verbandliche Caritas, deren personelle, interaktive, organisationskulturelle und gesellschaftspolitische Verfassung bis auf periphere Differenzierungen nichts anderes widerspiegelt als die Gesellschaft, wie sie überall anzutreffen ist, wäre kein Gewinn, weder für die praktische Bezeugung des Christentums in der Gesellschaft, noch für die gesellschaftspolitische Glaubwürdigkeit von Christen. Es nütze nichts, wenn ein Domkapitular vor der Öffentlichkeit Meinungen vertrete, die hinter ihm von seinen Mitarbeitern nicht mitgetragen würden.
Caritasdirektor Pfriem gab einen kurzen Ausblick auf das Jahr 2011. Er stellte einige Höhepunkte vor wie die neue Jahreskampagne „Kein Mensch ist perfekt“ , die die Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderung in der Gesellschaft thematisiert, die Kunstaktion „Nimm Platz“, die im September mit dem Vinzenzpreis gekrönt wird, oder die Eröffnung der Sexualstraftäterambulanz im Februar. „Ich wünsche Ihnen und uns ein kraft- und friedvolles Neues Jahr 2011, verbunden mit dem Dank für alle Unterstützung in den Anliegen der Caritas.“ Domkapitular Bieber ehrte Wolfgang Nemitz, den im vergangenen Jahr ausgeschieden Geschäftsführer des Caritasverbandes Kitzingen, mit dem Goldenen Caritaskreuz. Alexander Weimer, Teilnehmer eines Förderlehrgangs des christlichen Bildungswerks in Bad Neustadt, umrahmte die Veranstaltung musikalisch mit Bachsuiten.
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