„In Ochsenfurt macht man Erfahrungen, wie man sie anderswo nicht macht“. Dieser Satz stammt aus dem Jahr 1908 und findet sich in der Pfarrchronik von St. Andreas. Niedergeschrieben hat ihn der damalige Pfarrer Carl Hörschel und noch heute spürt man beim Lesen etwas vom Frust, der wohl damals dahinterstand. Man kann die Bemerkung aber auch ins Positive wenden und fragen, worin Merkmale einer Ochsenfurter Originalität liegen, die zum speziellen Profil unserer Stadt beitragen. Drei dieser Kennzeichen möchte ich benennen. Ich tue dies in Form von Einblicken in die Geschichte, um von daher Ausblicke auf die Gegenwart zu gewinnen. Auch wenn ich Priester bin, braucht niemand eine Gardinenpredigt zu befürchten – es sind einfach Gedanken eines bekennenden Ochsenfurters, dem die Verbindung mit seiner Heimatstadt immer wichtig war und ist.
1.Ein erstes Kennzeichen der Ochsenfurter Stadtentwicklung lässt sich so umschreiben: Von der Fürsorge zur Mitsorge. Was ist damit gemeint? Es entspricht sicher den geschichtlichen Tatsachen und ist keine abwertende Überheblichkeit aus heutiger Sicht, wenn man Ochsenfurt als ein seit dem Mittelalter gut versorgtes Gemeinwesen bezeichnet. Das Domkapitel, dem der Würzburger Bischof 1295 die Stadtherrschaft verkauft hatte, nahm seine Fürsorgepflicht ernst und kümmerte sich um die Verwirklichung vieler religiöser, kultureller und materieller Belange. Das bewirkte jedoch in der Bürgermentalität nicht selten ein Versorgungsdenken, das der Entwicklung von Eigeninitiativen nicht gerade förderlich war. Als dann 1803 mit dem Ende der Herrschaft des Domkapitels eine völlig veränderte politische und wirtschaftliche Situation eintrat, entwickelten sich aus diesem Wandel neue Formen bürgerlicher Mitsorge etwa im Entstehen von Vereinen (ich denke an die Kolpingfamilie und Arbeiterwohlfahrt) oder schon vorher in der Gründung einer Medikamentenstiftung für Arme und Kranke. All dem lag die Erkenntnis zugrunde, dass man unter den geregelten Verhältnissen nicht mehr einfach auf Initiativen „von oben“ warten konnte, sondern dass bürgerschaftliches Engagement gefragt war, wie es sich über die Jahrzehnte hinweg bis heute in vielen Formen entwickelt hat. Es würde zu weit führen, alle Initiativen im Einzelnen aufzuzählen (die Allerheiligenlitanei gehört in den Gottesdienst und nicht auf einen Neujahrsempfang!), aber ich möchte aus dieser ersten Ochsenfurter Geschichtslektion doch einen Wunsch für die Zukunft ableiten: Dass auch im neuen Jahr die vielen Formen des bürgerschaftlichen Engagements und der Mitsorge um das Gemeinwesen ein Kennzeichen von Ochsenfurt bleiben und sich weiterentwickeln. Die „runden Tische“, die seit einigen Jahren bestehen und bei aktuellen Fragen einberufen werden, scheinen mir ein hoffnungsvolles Beispiel dafür zu sein, eine Mitverantwortung zu wecken und zu fördern, die möglichst viele einbezieht.
2.Eine weitere Ochsenfurter Entwicklungslinie lässt sich so skizzieren: Von der Enge zur Weite. Diese Feststellung bezieht sich zunächst einmal rein geographisch auf das Stadtbild: Alte Darstellungen von Ochsenfurt zeigen noch bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts eine nahezu geschlossene Ortsansicht, die sich deutlich von der umgebenden Landschaft abhebt. Auch wenn die Stadt verkehrsgünstig an bedeutenden Handels- und Pilgerstraßen lag, waren die mittelalterlichen Stadtmauern doch auch Ausdruck einer geistigen Grundhaltung, die auf Geborgenheit bedacht war und manchmal durchaus Züge einer defensiven Enge annahm – im Sinn einer Abgrenzung gegen unerwünschte Einflüsse von außen. Das gilt sowohl für das bürgerliche wie das kirchliche Leben. Der Zuzug in die Stadt war streng reglementiert; ebenso legte man großen Wert auf Geschlossenheit im Glaubensleben. Diese war im 16. Jahrhundert in den Wirren der Reformationszeit freilich nur dadurch zu wahren, indem das Domkapitel die Anhänger Luthers zum Wegzug veranlasste. Es war ein weiter Weg von dieser Maßnahme bis zum heutigen ökumenischen Miteinander zurückzulegen. Die Öffnung der Stadtbefestigung im 19. Jahrhundert, das Erschließen neuer Verkehrswege und die Errichtung der Eisenbahnlinie dürfen auch deshalb nicht nur von ihrer verkehrstechnischen Bedeutung her gesehen werden, sondern sind Ausdruck einer gewachsenen Bereitschaft, immer stärker Verbindungen zu schaffen und Begegnungen weiträumiger Art zu ermöglichen. Dieser Mentalitätswandel vom verteidigungsbereiten Geborgenheitsstreben zu einer einladenden Offenheit hin war für mich sehr deutlich greifbar, als sich im Oktober 2006 Bürgerinnen und Bürger verschiedenster religiöser Bekenntnisse und politischer Einstellungen zu einer Kundgebung auf dem Kirchplatz trafen, um einmütig gegen Ansätze zum Fremdenhass und zur Ausländerfeindlichkeit zu protestieren. Als einer der Teilnehmer von damals war ich sehr beeindruckt von diesem klaren Bekenntnis zu einer Offenheit und einem Akzeptanzbemühen, das von vielen Jugendlichen und Erwachsenen signalisiert wurde. „Ochsenfurts Reichtum sind seine Menschen“, lautete damals das Motto. Deshalb ist mein zweiter Neujahrswunsch für die Bevölkerung, dass das gegenseitige Verständnis weiter wächst und dass sich daraus im besten Sinn eine „versöhnte Verschiedenheit“ ergibt, die bei aller berechtigten Eigenprägung der einzelnen Menschen und Gruppierungen Raum für ein belastbares Miteinander schafft, das sich auch in Herausforderungen wie der Aufnahme von Asylbewerbern oder im Umgang mit gesellschaftlichen Randgruppen bewährt.
3.Ein drittes Ochsenfurter Merkmal möchte ich so ausdrücken: Von der Einzahl zur Mehrzahl. Das bezieht sich schlicht und einfach zunächst auf die Tatsache, dass lange Zeit nur ein einziger Mainübergang vorhanden war und es mittlerweile drei Brücken gibt. Ich will hier nicht das Thema der technischen Sanierungsproblematik mit ihren unterschiedlichen Konzepten anschneiden, sondern mich auf die Symbolik dieser Entwicklung von der Einzahl zur Mehrzahl an Flussübergängen beziehen: Brücken dienen ja nicht nur einer baulichen Sicherung von Verkehrswegen, sondern sind ein Zeichen für die zwischenmenschliche Verbindung von Lebenslinien und ein Bild für die Begegnung von unterschiedlichen Ausgangspunkten her. Damit diese gelingt, muss einerseits die Statik in Form von Grundeinstellungen stimmen, zum anderen aber braucht es die Bereitschaft, aufeinander zuzugehen und Brückenschläge zu wagen, auch wenn dabei Spannungen auszuhalten sind und sich Standpunkte verändern können. Dass wir mittlerweile eine Mehrzahl von Brücken in Ochsenfurt haben, kann man deshalb im übertragenen Sinn so deuten: Auch hier haben sich im Lauf der Zeit unterschiedliche Wege der Begegnung entwickelt – sowohl im Bezug zu Gott wie auch in den Kontakten untereinander. Wichtig beim Brückenbau wie im menschlichen Zusammenleben ist, dass die Spannung stimmt und die Belastbarkeit gesichert ist. Meine Hoffnung zielt darauf, dass sich auch im Zusammenleben der Einwohner von Ochsenfurt ein tragfähiger Gemeinsinn weiterentwickelt. Dieser kommt zustande, wenn im Konzert der politischen, kulturellen, religiösen und gesellschaftlichen Kräfte eine Einstellung gepflegt wird, die der damalige Bürgermeister Karl Remling in einem Gespräch kurz nach meiner Priesterweihe einmal so umschrieben hat: „Ich hab' immer ochsenfurterisch gedacht“. Das war so zu verstehen, dass bei allen sinnvollen und auch berechtigten Einzelstandpunkten im bürgerlichen und kirchlichen Leben – ob es nun um Straßen, ein Pfarrzentrum oder andere Probleme geht – nie die gemeinsame Grundlage aus dem Blick geraten darf; dann bleibt das Verbindende stärker als das Trennende. So ist mein dritter Wunsch, dass auch im neuen Jahr in dem Sinn „ochsenfurterisch“ gedacht und gehandelt wird, dass sich immer wieder von unterschiedlichen Standpunkten her verbindende Brückenschläge und hilfreiche Begegnungen ergeben. Dies gilt nicht nur für die offiziellen Kontakte, sondern mehr noch für die alltäglichen Anlässe – denn so war eines der geflügelten Worte unseres langjährigen Stadtkirchners Georg Staab: „Das Beste ist immer noch das Normale“.
„In Ochsenfurt macht man Erfahrungen, wie man sie anderswo nicht macht“: Ich denke, wir brauchen uns mit unserer Eigenprägung nicht zu verstecken – jedenfalls nicht wie jene Frau, die vor mehr als fünfzig Jahren im Lebensmittelgeschäft meiner Eltern erzählte, sie habe ihre Kinder absichtlich in Würzburg zur Welt gebracht, damit sie den Makel „Ochsenfurt“ nicht ein Leben lang durch sämtliche Ausweisdokumente mitschleppen müssten. Ich habe für vieles Verständnis, aber dafür nicht. Wenn ich mich am Anfang als „bekennenden Ochsenfurter“ bezeichnet habe, muss ich mit einem inneren Schmunzeln vielmehr daran denken, dass mir einmal der verstorbene Weihbischof Alfons Kempf, als ich ihm von meiner Heimatstadt erzählt habe, gesagt hat: „Ich glaub', wenn es möglich wäre, würdest Du in Deinem Personalbogen unter der Rubrik 'Konfession' auch noch 'Ochsenfurter' hinschreiben“. Nun, ganz so weit muss man nicht gehen, aber ich bin doch froh und dankbar, aus einer Stadt zu stammen, die lebenswert, liebenswert und – richtig verstanden – auch lobenswert ist. Möge es weiter so bleiben!