Würzburg/Hollstadt (POW) „Das konnte mit dem Dom nicht gut gehen. Im Innern des Domes tropfte es von den Gewölben. Immer wieder fielen Stuckteile von der Decke. An den Pfeilern der Nordwand platzten Steinbrocken ab. Der Dom war in Gefahr.“ Pfarrer i. R. Peter Pretscher, ab September 1945 Domkaplan in Würzburg, erinnert sich noch genau, wie es zum Einsturz des Hauptschiffes des Kiliansdoms am 20. Februar 1946 kam. Der 1915 geborene Pretscher verbringt heute seinen Ruhestand in Hollstadt und hat dort niedergeschrieben, „wie der Schuttkaplan des Domes den Einsturz vor 60 Jahren erlebte“.
Mit einen spektakulären Unfall aus dem Dom beginnt Pretscher den Bericht über den Einsturz des Hauptschiffes. „Das Domdach war bereits mit Brettern abgedeckt, aber ohne eine Absicherung gegen den Regen. Schon feierten die Verantwortlichen das Richtfest auf dem Domgewölbe. Die letzte Domglocke in den Westtürmen läutete mit scheppernden Klängen.“ Mit einem dumpfen Schlag endete plötzlich das Läuten der einzig verbliebenen Domglocke. „Dann war Ruhe.“ Die metallene Krone war gebrochen und die Glocke den Turm hinuntergesaust. „Die Jungen, die das Glockenseil bedienten, kamen mit einer Beule und dem Schrecken davon, da sie über ein Seil einen Stock tiefer läuteten.“ Die Glocke ist heute im Innenhof des Domkreuzgangs zu sehen. „Erschütternd war die Aufschrift, die auf der Glocke zu lesen ist: Ich bin die Stimme des Rufers in der Wüste: Bereitet dem Herrn den Weg.“ Der Schock des Glockensturzes sei wie eine Stimme kommenden Unheils gewesen, schreibt Pretscher.
Gegen drei Uhr in der Nacht des 20. Februar hörte Domkaplan Pretscher in seiner Schlafstelle in einer Beichtzelle der Mutterhauskirche der Erlöserschwestern ein lautes Poltern – wie beim Einsturz einer Ruinenwand. Pretscher dachte nicht gleich an den Dom, sondern an den Einsturz einer hohen Wand, die den Weg zur Domkapelle bedrohte. Die Kapelle war über dem Domkreuzgang in einer ausgebrannten Gewölbehalle eingerichtet worden. Im Morgengrauen zogen die Erlöserschwestern mit Kaplan Pretscher und den Ministranten vom Mutterhaus in der Ebracher Gasse zur Domkapelle. „Beim Eintritt in den Kreuzgang fielen die hellen Fenster der Südwand des Domes auf“, stellte Pretscher fest. „War in der Nacht geschehen, was der Architekt fürchtete: dass einmal der Wind den Dachstuhl in die Tiefe wehen würde?“ Ein Ministrant lief sofort über das Querschiff in den Dom. Er meldete anschließend, dass das Hauptschiff kein Gewölbe und kein Dach mehr habe: „Alles liegt durcheinander im Dominnern!“ Danach kehrte die fromme Schar in die Kirchenruine des Mutterhauses der Erlöserschwestern zurück und feierte dort den Gottesdienst –„erschüttert, aber froh, dem neuen Unglück im Dom ohne eigenen Schaden entkommen zu sein“.
Anschließend meldete Pretscher das Unheil in der Kathedralkirche an Dompfarrer Rümmer in Kloster Oberzell. Dieser habe nicht gejammert, sondern sofort die Anweisung gegeben, noch brauchbare herabgestürzte Bretter für das Häuschen neben der Domkapelle zum Belag der Fußböden zu verwenden. Dort wurden gerade Räume eingerichtet, die nicht nur der Dompfarrei dienen sollten, sondern auch der Caritas, der Wohnung für den Dompfarrküster und der von Oskar Neisinger verwalteten „Jugendstelle“ der Diözese. „So gingen über die Bretter des eingestürzten Domdaches Jugendliche aus dem fränkischen Land, die bereit waren, an einer neuen Zeit mitzuarbeiten“, schreibt Pretscher.
Als meist rat- und hilflos schildert der Priester die Reaktionen der Besucher auf den Schutthügeln des Domes: Oberbürgermeister Löffler stand weinend auf dem Schutt. Bischof Matthias Ehrenfried schien völlig unbeeindruckt. Zurück in Oberzell, brach er zusammen. Baureferent Domkapitular Dr. Kainz tröstete Pretscher zwischen den Trümmern mit dem Hinweis, dass in Pretschers Heimat Bad Neustadt in Kürze die Klosterkirche in kirchlichen Besitz übergehe.
In seinen Erinnerungen nennt Pretscher auch erste Warnzeichen im Vorfeld des Einsturzes wie das abgefallene Gesicht eines Bischofsdenkmals oder das zerbrochene Treppenhaus. „Ruinensteinen aus einem Feuersturm konnte man nicht mehr trauen.“ Die Regenperiode im Februar 1946, die manche Kellerbewohner der Innenstadt fast zur Verzweiflung trieb, habe dann den Ruinen des Kiliansdoms den Rest gegeben. Außerdem habe kurz vor dem Einsturz des Hauptschiffs die Sprengung einer großen Menge deutscher Munition am Schenkenturm durch die Amerikaner den Dom sehr stark erschüttert.
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